EUROPAS  PFLICHT   zur    LIBERALITÄT 

 im   SINNE   von JOSÉ ORTEGA  y  GASSET  ? 

Herausgewachsen aus zahlreichen Nationalstaaten bildet die Europäische Gemeinschaft (EU) heute ein weder politisch noch kulturell homogenes Erscheinungsbild, wenn wir das innerstaatliche Interessengerangel, die nationalen Egoismen einiger Teilnehmer, zu bedenken haben. Kulturell gewendet sprechen wir gern von einer Wertegemeinschaft innerhalb der EU und beziehen Nordamerika wie selbstverständlich mit ein. Der Kulturraum des Westens ist heute weit über das regionale Alteuropa hinaus gefächert. So pflegen wir inzwischen die regional unabhängige kulturelle Wirklichkeit in so genannten Kulturräumen anzuerkennen, indem wir  auch Israel, Australien, Neuseeland und Japan mit in die Idee unserer Leitkultur als einen einheitlichen Kulturraum einbeziehen. Genannte Länder sind demgemäß mit der Kultur des Westens verschmolzen. Dabei scheint unklar zu sein, ob das Wertebewusst­sein bei allen Teilnehmern inhaltlich gleich ist. Genauer gefragt: Sind hier die Wertpräferenzen, ist das kollektive Wertefühlen homolog? 

                  Was überhaupt sind Werte? 

Worin liegt die lebensweltliche Präsentation immaterieller Güter, Werte genannt?

MAX SCHELER hat für das westliche Kulturverständnis eine massgebliche Analytik des Wertesystems herausgearbeitet und konsistente, intersubjektiv bestätigte Definitionen des Wertbegriffs entwickelt.  In der insoweit relevanten Abhandlung: Vom Umsturz der Werte (1955),  tritt die Bedeutung des Ressentiments im Aufbau der Moralen (kulturübergreifend wahrgenommen als zerstörerische Kraft in der Seele ) deutlich als wertkonstitutiv hervor. Scheler zeigt am Beispiel einer Rangordnung, daß die Wertrelationalität grundsätzlich subjektiv bedingt ist : Nicht die Werte ändern sich, sondern das Wertefühlen der Menschen ist durch Zeit(geist) und Situation beeinflusst bzw. bedingt und wirkt so auf die Gestalt einer jeweiligen gesellschaftlichen bzw. kulturellen Werterangordnung.
Mit Schelers Sichtweisen können wir das in den Kulturräumen uneinheitliche Wertefühlen der Menschen leicher verstehen und Ortegas Forderung auf Anerkennung des universellen, interkulturellen Anspruchs auf je spezielle, eigene Kultur-Werte im Begründungszusammenhang besser begreifen. Der oft gezeigte kulturelle (religiöse) Absolutheitsanspruch im Gewande eines Fundamentalismus tritt damit vielleicht  bald ins 2. Glied zurück und verliert seinen gespenstischen Schrecken. Zögern viele Gründungseuropäer, die Türkei in den Verbund aufzunehmen, weil sie mit einem Staat, dessen Bevölkerung zu einem repräsentativen Anteil dem Islam angehört vielleicht im religiösen und religiös-gesellschaftlichen Wett­bewerb einen Kulturkampf befürchten, der das Christentum beschädigen könnte? Dieser Aspekt drängt die Frage auf: Wie christlich ist denn noch das alteuropäisch gewachsene Christentum? Wer sich der Beantwortung von Wertkate­gorien und christlicher Wertauffassung nähern will, der muss im Fortschreiten zur Authentizität beachten, dass wir Heuti­gen eine stärker anthropologisch oder kulturwissenschaftlich geprägte Denkweise bevorzugen. Weder das Christentum noch der Islam sind als bestimmende Kandidaten eines Kulturraumes in Zukunft geeignet, so scheint es, unter der jeweiligen Identifikationsfolie ihres jeweiligen religiösen Bekenntnisses Kulturräume zu begrenzen. Beide sind wohl wegen ihres, wie es scheint unaufgebbaren Absolutheitsanspruches für die fernere Geschichte eher höchst problematische  Kandidaten zur Bestimmung von Kulturräumen. Toleranz, verstanden als wechselseitiger Respekt vor der Andersartigkeit des anderen hilft als mentale Bezugsgröße allein da nicht weiter, wo ein religiöses oder soziales Ressentiment mit zerstörerischem Grollen die menschliche Seele durchfurcht.

Man kann „Alteuropa“ und seine Werte nicht länger durch die Brille des Berner Emeritus Peter Blickle betrachten und daraus auf die europäische Kultur der Gegenwart schließen. Zwar ist es zutreffend, dass Antike, Christentum und Aufklä­rung den Urgrund einer  europäischen Leitkultur bilden. Es ist aber gerade das herausragende Verdienst von José Ortega y Gasset erkannt zu haben, dass unsere Kultur ihre Blüte eben  gerade ihrer „evolutionsgenetischen Öffnung“ verdankt! Wenn es wirklich sensu Blickle wahr sein sollte, dass kulturelle Werte wie Gehorsam, Disziplin und Treue mit „Alteuropa“ untergegangen und gewissermaßen zum Ersatz andere Werte wie Frieden, Freiheit und Ordnung zu gesellschaftlichen Bezugsgrößen avanciert sind, dann bestätigt diese Sichtweise bloß Ortegas sichere Vorausahnung vom kulturellen Wandel in einer modernen europäischen Informationsgesellschaft.

 Verfassungs- und ideengeschichtlich mag das alles anders zu gewichten sein: José Ortega y Gasset deutet eine Gesellschaft an, deren originäre Lebens-Bezugsebene durch die Vitalität repräsentiert ist.  Kritische und weitsichtige Betrachter der Scene (Gesellschaft) warnen vor den negativen Folgen eines bis heute nur wenig überwundenen Mißverständnisses, das viele Menschen seit der so genannten achtundsechziger Generation dazu gebracht hat,  Freiheit und Libertinage in Eins zu rühren. Die hieraus oft gestaltete individuelle Lebensform deute sich im historischen Verständnis als Menetekel des kulturellen Niederganges an. Insoweit seien Enstellungen bedenklich, die das vitale Lebensgefühl quer durch alle Schichten beeinflussen: Zu keiner Zeit der Menschheitsgeschichte habe Libido, Erotik  und Sexualität eine derart animalisch-mentale Verschrän­kung erfahren, wie  diese ein kollektives Moralsystem prägenden psychosomatischen Vollzüge heute allgemein  öffentlich gelebet und  erlebet werden. Sie wirken gestaltend auf intersubjektive, interge­schlechtliche Beziehungen und bilden das Berechnungs­schema sogar für organisationspsychologische Konzepte. So ist die Sexualität eine Bezugsgröße für manche wirtschaftlichen Strategien. Ihre Verwandte, die Geldgier, wird durch Be­stechung oder Kapital-Auslandsflucht zur geheimen Göttin für Besserverdienende.

Liegt die Kultur bloß wie Firnis über dem Vulkan der Triebe? 

Kultureuropa müsste im angemessenen Verständnis der aktuellen Neurobiologie (näher hin: der eigentlichen Hirn­forschung) begreifen, dass Kultur und zugleich in bzw. mit ihr jede Art von Moralverhalten aufgrund der Natur des Menschen wie Firnis über Trieben liegt. José Ortega ging es nicht zuletzt in einem genuin humanistischen Ansatz um die Kultiviertheit des Menschen überhaupt, dessen Aufgabe es a u c h ist, die Naturwüchsigkeit der Triebe im Zaume zu halten. Die europäische Kultur, als Möglichkeit begriffen, hat die Chance, ja, sie hat vielleicht sogar die Aufgabe, die Grenzen zu verschieben und eine Werte-Präferenzordnung zu etablieren, die ein universelles Wertefühlen innerhalb der Kultur des Westens zum Garant unserer Leitkultur etablieren kann. José Ortega y Gasset hat in dem berühmten Europavortrag  (München 1953)  den inneren, übernationalen Zusammenhang  des Wertefühlens herausgearbeitet, das Grundlage einer solchen Ordnung nach seiner Ansicht ist.

Mit Aristoteles ruft uns José Ortega y Gasset dazu auf, die rechte Mitte zu finden, um Freiheit, Ordnung und Frieden als Gemeingut zu sichern. Zwar ist nach Ortegas Verständnis jenes Verhalten moralisch gut, welches zugleich auch vital gut ist. Die ebenso kulturelle wie gesellschaftliche Bezugs­größe, die im europäischen Verständnis der Vitalität als praktische Ausdrucksform des Lebens ein hohes Wertefühlen beimisst, dieses Freiheit, Ordnung und Recht, Sitte und Würde garantierende Etwas, wird durch die Familie, den sozialen Urgrund von Sozialität, Recht und Moralität repräsentiert. Hier „ticken“ wir eben in manchen Bewertungshorizonten anders als es vielleicht  Menschen eigen ist, die dem Islam zugeneigt sind.

Von „moralisch gut“ oder „moralisch schlecht“ bzw. von „richtigem“ oder „falschen“ Verhalten kann da freilich nicht die Rede sein, sondern von einer je spezifischen Artung der Kultiviertheit des Menschen. Ich wiederhole: Der wechselseitige Respekt unterschiedlicher Kulturen vor der Andersartigkeit anderer Kulturen, vor deren Überzeugungen und Werthaltungen ist ein unaufgebbarer Anspruch von Kultur überhaupt an uns alle. Die westliche Kultur begreift diesen Anspruch aus dem Aspekt von Toleranz und Menschenwürde. Ortegas kulturelles Grundverständnis speist sich nicht zuletzt aus dieser Quelle.

Blicken wir auf die gegenwärtigen politischen Strömungen, Meinungen und Willensbildungen, dann fallen uns Befürchtungen mancher besorgter Politikergemüter auf, denen eine Unterdrückung der Mehrheitsinteressen durch Partialinteressen kleinerer Teilnehmer Kopfschmerzen berei­ten. National-egoistische Strebungen könnten, so meinen maßgebliche Europapolitiker, die geistige, gesellschaftliche und wirtschaftliche Emanzipation Europas lähmen. Resigniert denkt mancher über einen Alleingang des so genannten Kerneuropas nach. Deutschland und Frankreich könnten zusammen mit anderen Bundesgenossen der ersten Stunde (Slogan: Kerneuropa)  den vielleicht zu schwerfällig, zu “dick” und  unbeweglich  gewordenen Dampfer wieder mit Fregatteneigenschaften umrüsten, um auf solche Weise ein Europa der zwei Geschwindigkeiten in See stechen zu lassen.

Die gesellschaftlich-politische, die kulturelle europäische Gemeinschaft, wie wir sie heute trotz aller Unfertigkeiten und Halbheiten antreffen können ist im Ergebnis, im Sinne von José Ortega y Gasset eine „neue Gestalt menschlichen Daseins“ . Sie profiliert sich auf diese Weise hoffnungsvoll trotz PISA-Debakel in Deutschland, trotz Hang zu hedonistisch-egoistischer Lebensform, die mit einer Paralyse des traditionellen Familienbildes einhergeht. Es könnte immerhin sein, daß spätere Generationen diese strukturellen Umbrüche und die neuen gesellschaftlichen Erscheinungsformen als Fortschritt im Sinne eines kulturevolutiven Prozesses betrachten. Erfahrungen haben wir allerdings mit ähnlichen Entwicklungen: Dem späten Rom war eine positive Sichtweise, wie ich sie vorstehend anzudeuten wagte, nicht vergönnt.

 Zu keiner Zeit wurden die gesell­schaftlich-politischen Bezugsgrößen „Elite“ und „Masse“ im Sinne von José Ortega y Gasset so deutlich gegeneinander ins Feld geführt, wie wir diesen Gegensatz heute in fast allen Bereichen des öffentlichen Lebens beobachten können. Es scheint festzustehen, dass die gewachsene  aktuelle Kultur des Westens, die wir als Emanzipation von der europäisch-abendländische Leitkultur oder als deren Fortschrittsphänomen anzusprechen pflegen, aufgrund ihrer eigenen Basiskon­stituentien in eine „neue Gestalt menschlichen Daseins“ , wie Ortega es bezeichnet, münden wird. Die “neue Gestalt” wäre dann ebenfalls  kulturevolutiv Ausdruck des geistigen Europas des 21. Jahrhunderts.

Ich glaube im übrigen, man müsse sich nicht durch die noch so tiefsinnigen oder prophetischen Werke von zig Repräsentanten der europäischen Geistesgeschich­te  hindurch quälen,  um auf der Höhe der Zeit angemessen á jour zu sein, wenn es bloß gelingen könnte, von Aristoteles über Thomas von Aquin, Nikolaus von Kues, von  Kant bis José Ortega y Gasset samt einige ihrer maßgeblichen Epigonen , alles in einem strukturellen Zusammenhang Gedach­te richtig zu verstehen, zu erfassen und zu begreifen. Nach meiner Überzeugung beruht die Geistesgeschichte des Abendlandes (praeter – propter) auf Bezugsgrößen, die man an den Fingern bloß einer Hand aufzählen kann.

Günter R. Kühnle

 

 

Kategorie: Allgemein