Setzt Verantwortung für Schuld Selbstbestimmung voraus?

Für Immanuel Kant stand fest, daß jener, der im Sinne von Max Scheler über Vollsinnigkeit verfügt auch die Wahlfreiheit zwischen Handlungsalternativen besitzt und diese autonom ausüben kann. Das Problem liegt in der tieferen Bedeutung dessen, was wir unter Vollsinnigkeit einerseits (Scheler) und Vernunft andererseits (sensu Kant)  begreifen. Die aktuellen und teilweise als brisant wahrgenommenen Ergebnisse in der Hirnforschung, auf dem Felde der Neurowissenschaften allgemein, der Genetik und Hormonforschung  scheinen für manchen Betrachter so etwas wie eine kopernikanische Wende auf dem Gebiete von Zurechnungsfähigkeit und Schuldfähigkeit des Individuums evoziert zu haben: Wenn mein freier Wille eine Illusion über eine Wahlfreiheit bei Alternativen ist, dann gibt es eben keine Alternative, sondern bloß Determiniertheit. Es scheint jedenfalls mit empirischen Beleg festzustehen, daß ein Handeln bzw. Entscheiden schon kurz vor unserem mentalen Zugriff auf die Szene festgelegt ist. Bevor also der freie Wille sein Geschäft betreibt ist offenbar auf neuronalem Schleichweg schon die invisble hand aus dem emotionalen Cortex oder dem limbischen System dirigistisch in unsere “Autonomie” hinein geschlichen.

Das  humane Leben, als Prozeßcharakter begriffen, ist im Sinne von José Ortega y Gasset ein Drama, ein sozusagen fortwährend nach vorn in die Zukunft drängendes, stürmendes biotisches Etwas in dem  die Vernunft als selbstreferentielles System zwischen Organismus und Geistsphäre (Wir-Sphäre)  eine Art Regulativ zwischen Triebstruktur und Realitätsprinzip bildet. Folgt man Ortegas Diktum: Der Mensch hat keine Natur, er hat Geschichte, dann wurde auch dem “späten Ortega” klar, daß man die Geschichte des Menschen nur erzählen kann, wenn man vorher schon weiß, wer er ist. Das bedeutet: Man muß die Natur der Natur des Menschen zuallererst kennen, um die Bedingung der Möglichkeit von Erfahrung seiner Geschichte zu konstituieren. Hier folgt der reife Ortega Plessners Anthropologie und ermöglicht damit seinem philosophischen Denken Überzeitlichkeit. Denn unter der Prämisse dieses Konzepts einer Selbstauslegung des Menschen können die erwähnten Erkenntnisse der Neurowissenschaften ohne weiteres interpretativen Eingang finden. Ein entsprechendes Interpretationskonstrukt (der Begriff ist im Sinne von Franz von Kutschera anzuwenden!) des hypothetischen heutigen Ortega würde in relevanter Frage dann wohl in folgendem Rahmen in Erscheinung treten können.

 

DAS PRINZIP DES ANDERS KÖNNENS

Sind wir determiniert und trotzdem frei? Lässt sich aus dem berühmten LIBET-EXPERIMENT  folgern, daß Willensfreiheit eine Illusion ist? Das Prinzip des anders Könnens ist, so scheint es, ein unverzichtbares Kriterium für freie Willenshandlungen. Fragwürdig erscheint deshalb auch die kompatibilistische Sichtweise mit dem Verzicht auf dieses Prinzip. Sie erweckt nicht den Eindruck von Willensfreiheit, sondern klingt nach einer Theorie des unfreien Willens, die dennoch die Anwesenheit von Schuld und Verantwortlichkeit nicht preisgibt. Nicht Freiheit sui generis ist der entscheidende Punkt, sondern Verantwortlichkeit und Schuld! Beide Bezugsgrößen müssen eben nicht an Freiheit gebunden sein, wie dies traditionell gesehen wird.

 

SELBSTBESTIMUNG  BRAUCHT  KEINE  FREIHEIT

Fest steht: Determinismus und freier Wille sind ( einstweilen?) nicht zu versöhnen! Das Prinzip der Urheberschaft und Autonomie einer Person, eingebunden in das Konzept der Selbstbestimmung reicht aus, um Individuen für ihre Taten zur Rechnenschaft zu ziehen. Darüber hinaus bedarf Selbstbestimmung nicht der Freiheit, die bekanntlich ohnehin physikalisch nicht möglich ist. Einigermaßen unsinnig ist die Rede vom Determinismus als “Sklave-des-Gehirns-Sein” bzw. das Letztere als Definition des ersteren. Selbstbestimmung ist trotz Determinismus möglich: Man beweise mir das Gegenteil. Der freie Wille ist folglich auch nicht notwendige Voraussetzung, um Verantwortung basierend auf Schuld zu fordern. Determinismus und Verantwortung sind aber zu versöhnen! Wir sind selbst dann, wenn wir keinen freien Willen haben nicht Marionetten unserer Gehirne. Wir besitzen Wahlmöglichkeit (wenngleich auch nicht frei). Wie ist das zu denken?

Sollen gewünschte Ergebnisse erzielt werden, dann  sind bewußte Anstrengungen und Denken gefordert, um Verantwortung für gewünschte Ergebnisse übernehmen zu können. Denn unser Denken und unsere Anstrengungen sind Teil der Entscheidungsfindung bzw. entsprechender Handlungen. Auch diese Sicht des hiernach unfreien Willens basierend auf Selbstbestimmung gestattet jedenfalls eine Diskriminierung zwischen “freiem” und “unfreiem” Handeln aufgrund der Prinzipien der Urheberschaft und Autonomie, um im Ergebnis Verantwortlichkeit zuzuweisen oder eben auch nicht.

 

KÜNSTLICHE  TRENNUNG IN KRITISCHEM LICHTE

Im Denk- bzw. Nachdenkprozeß über uns selbst erscheint das eigene Ich als eine Art innerer Beweger, der Gedanken und Handlungen steuert. Die Hirnforschung setzt neuronale Netzwerke an die Stelle dieses Homunkulus. Dürfen wir Geistiges (wie Freiheit) und Körperlich-Materielles (wie Hirnzustände) als getrennte Substanzen betrachten? Hilft da Ortegas Definition für Person: “Ich bin ich und meine Lebensumstände” weiter, wenn das Handeln aus diesem Aspekt durch Erlebensepisoden (Retentionskette sensu  Edmund Husserl), durch vergangene Erfahrungen und Urteile determiniert wird? Wir räumen in apodiktischer Gewißheit aufgrund empirisch gewonnenenWissens der Hirnforschung dem Nicht- bzw. Unbewußten jenen Platz ein, der ihm offensichtlich zukommt, wenn wir diese künstliche Trennung von Geistsphäre und seiner materiellen Basis aufgeben, wenn wir uns selbst mit unserer Hirntätigkeit identifizieren, weil wir jetzt wissen, daß das Gehirn neuronal zwischen selbst und fremd unterscheidet. Unter dieser Prämisse verstehen wir uns als dynamische, hoch distributive Systeme, die Regeln lernen und Verantwortung übernehmen können, deren Wille bzw. Motivation jedoch von vielen Einflüssen bestimmt wird, von inneren und äußeren.  Berücksichtigen wir obendrein  den quantenmechanischen Zufall, dann sind apriorische Erfahrungen und Überzeugungen selbst wiederum das Ergebnis determinierender Prozesse.

Handelt ein Mensch, sic stantibus rebus, aus schicksalhaften Vorgegebenheiten und kann er, wie gezeigt worden ist, gar nicht anders handeln, als er tatsächlich handelt, dann ist er in logischer und materieller Konsequenz nicht mehr der wirkliche Urheber seiner Handlungen, sondern nur ein Glied in einer unüberschaubaren Kette von Episoden, Ursachen und Zufällen. In einem solchen Falle könnte dem Individuum im philosophisch-moralischen Sinne sein  Handeln nicht “schuldhaft” zugerechnet werden. Daraus folgt für die Gesellschaft das Problem: Wie sollen wir damit umgehen, in der zwischenmenschlichen Beziehung ebenso wie im Strafrecht? Die eingangs dargebotene Sichtweise und das  hierzu gefundene Interpretationskonstrukt im Spannungsfeld von Selbstbestimmung, Urheberschaft und Autonomie könnte ein Meilenstein auf dem Weg zur Problemlösung sein.

 

Emergenz und emergente Eigenschaften des Gehirns

Wie entsteht Bewußtsein? Redaktionisten wollen das Bewußtsein aus den Einzelteilen des Gehirns heraus erklären. Auf die Psycho aber lassen sich von dieser Mikroebene keine Votaussagen deduzieren. Die Fähigkeit, alles auf einfache fundamentale Gesetze zurückzuführen, impliziert nicht die Möglichkeit, von diesen Gesetzen ausgehend das Universum zu rekonstruieren. Ihre Relevanz für Probleme der Wissenschaft und erst recht für gesellschaftliche Fragen verliert die Elementarteilchenphysik zunehmend dann, je mehr sie über das Wesen der grundlegenden Naturgesetze verrät: Das ist ein Faktum auf der Ebene von Kultur! Noch immer widersetzen sich viele Neurowissenschaftler der Einsicht in einen Mechanismus der Natur,  durch den die Natur der Natur des Menschen, nämlich Kultur überhaupt erst denkbar ist:

 Die Emergenz als Interpretationsknstrukt für Freiheit und Verantwotung, Verantwortlichkeit und Autonomie.

 

Was bedeutet Emergenz ?

Emergenz war die Hauptthese schon in der dialektischen Naturphilosophie  bei Schelling, Hegel und anderen. John Locke äußert sich so: ” Der Wille ist in Wahrheit nichts als die Macht oder Fähigkeit, etwas votzuziehen oder auszuwählen. Und wenn der Wille gleichsam als Fähigkeit betrachtet und nur als Möglichkeit einer Tat gesehen wird, so wird sich die Absurdität, die darin liegt, ihn als frei oder nicht frei zu bezeichnen, rasch genug zeigen.”

Mit Emergenz bezeichnet man das Hervortreten,das  plötzlich und irreduzibel auftretende Erscheinen neuer Strukturen bzw. neuer Eigenschaften wie z.B. Geist, die in einem System aus dem Zusammenspiel seiner Elemente spontan erwachsen und die sich nicht direkt aus den Eigenschaften der Elemente ableiten lassen. Neurowissenschaftler und Philosophen jüngerer Generation der Wissenschaft, Hirnforscher und Psychologen wie z.B. Michael Gazzaniga (University of California in Santa Barbara)  vermuten darin den Schlüssel zu unserem Bewußtsein, zum selbstbewußten ICH. Der Physik-Nobelpreisträger 1998,  Robert Laughlin, spricht mit Emergenz ein nach seiner Auffassung neues Weltbild an, wenn er sagt: ” Was wir hier sehen ist eine neue Weltsicht, bei der das Ziel, die Natur durch Zerlegung in immer kleinere Teile verstehen zu wollen, durch das Ziel ersetzt wird, verstehen zu wollen, wie die Natur sich selbst organisiert.”

Die Emergenz ist also kein Gespenst, wie es mit dem Begriff der Fulguration einst von Konrad Lorenz zur Frage: Wie kommt der Geist in die Welt, auf unser Verstehen angesetzt wurde.  Emergenz bezeichnet als Interpretationskonstrukt den Übergang von einer Organisationsebene auf eine andere. Für Immanuel Kant war dieser Übergang, ausgedrückt in seiner Anthropologie, auch ohne das heutige exorbitante Wissen zu Struktur und Funktion unserer  Geist verbundenen, zur vielfältigen Interaktion durch Wechselwirkung mit der  neuronalen Basis bereiten Heuristik  die Höherstufung geistiger Qualitäten aus Verstand (mit Tieren gemeinsam), Urteilskraft und Vernunft (reine Metaphysik). Nachdem Kant mit der dogmatischen Metaphysik seiner Zeit gründlich aufgeräumt hatte, stellte er in der Kritik der reinen Vernunft die Frage: “Wie ist Metaphysik als Wissenschaft möglich?” Jener, für den Kants Denken ziemlich ungewohnt ist, der könnte vermuten, Kant beschäftige sich mit Epiphänomenen des Geistes (vgl. aktuelle Epiphänomenalismusdebatte von heute). Tatsächlich aber zweifel Kant nicht an dem Faktum Metaphysik, denn er fragt nicht: Ist M.als Wissenshaft möglich, sondern seine Frage lautet: Wie ist M. als Wissenschaft möglich. Kant setzt M. also als Faktum voraus und  er begriff ihre Herkunft (Vernunft) als emergente Eigenschaft des Geistes.

Für José Ortega y Gasset deuteten zwei dieser neuen  emergenten Eigenschaften, die dem Urmenschen noch nicht eigen waren, einen Sprung in der Kulturevolution an:  Freiheit und Verantworrtlichkeit. Diese Entitäten finden sich eben nicht auf der Organisationsebene eines einzelnen Gehirns, sondern wir treffen sie im Raum zwischen  Gehirnen, in den Wechselwirkungen der Menschen untereinnader an. Ein insoweit interessantes Experimentierfeld ist die Semantik, die Kommunikation via Sprechen und Verstehen. In seiner Abhandlung über die Liebe  deutet Ortega zum Wesen der typisch spanischen Frau an, auf welche Weise sich Determiniertheit sogar in einem  geschlechtsspezifischen Menschentypus zeigt, indem dieser “erschreckende Lichter in die verborgenen Höhlen der iberischen Seelen werfen“ kann. Denn im moralischen Profil der spanischen Frau sei “die Bildnerarbeit unserer ganzen Geschichte aufbewahrt wie die Hammerschläge des Künstlers im Relief eines Pokals.”   Neurowissenschaftler, Genetiker und Hormonforscher würden nicht wie Ortega in einer solch großartig metaphernreichen Sprache und der ihm eigenen blendenden  Stilistik  dasselbe ausdrücken, wenn sie von phylogenetischen Anlagen zu berichten hätten, sondern sie würden mit ganz anderen Konnotationen  von Genen, Allelen und vielleicht auch vom limbischen System, dem emotionalen Kortex und von Sexualinstinkten sprechen. Ortega hat allerdings vergessen  zu zeigen, daß eben dieser hypersexuell determinierte  weibliche Typus trotz seines triebbelasteten moralischen Profils unter Lenkung und Leitung durch Vernunft den Trieben und Leidenschaften nicht nur gegenüber stehen und sie so im Zaume halten, sonder auch von ihnen unabhängig sein kann: Und eben das ist eine Leistung der Freiheit, der Autonomie des Menschen, ein kategorialer Unterschied zum Tier. Wir dürfen zwar, wir müssen aber nicht auf sexuelle Reize reagieren wie der Hund auf die Wurst. Wenn wir in einer geschlechtlichen Partnerschaft Verantwortung für das seelische Wohlergehen eines anderen Menschen haben, dann ist bei exogenen sexuellen Neureizen Treue Ausdruck nicht nur von Liebe, sondern auch von Freiheit, von Autonomie. Da die echte Geschlechtsliebe in übereinstimmender Bekundung von Max Scheler und José Ortega y Gasset soetwas wie eine Himmelsmacht, also ein gewissermaßen metaphysisch-kosmisches Gefühl ist, kann nach meiner Überzeugung diesem Niveau der sinnlich-übersinnlichen Liebe das Prädiakt emergente Eigenschaft zukommen. Diese Form der Liebe ist bei Tieren nicht zu verorten, im Ganzen aber  keineswegs etwas Neues: Denn schon Paganini schmilzt in seinem erotischen Gefühl im Ausdruck einer Operette mit den Worten dahin: Hab ich nur deine Liebe, die Treue brauch ist nicht. Die Liebe ist die Knospe nur, aus der die Treue bricht. Ein wunderschönes Bild! Ich bin mir dessen sicher, daß die Operette bzw. Paganini im Hochgefühl dieses Aktes keine Überlegungen zur Emergenz angestellt haben: Aber sie haben diese am Beispiel einzigartig beschrieben.