Vom Glückszentrum im Gehirn zur Sinnfrage des Lebens

Das Glück ist im Sinne von José Ortega y Gasset eine der menschlichen Natur inhärente Anlage. Jeder Mensch verspürt eine Berufung zum Glück. Lebenssinn und Lebensglück sind ineinander verschränkte, wechselseitig voneinander abhängige  Größen . Der Mensch entwirft das “Programm eines Lebens, das sich selbst gewinnt- das Leben als Freude und Glück” ( Prólogo  a un Tratado de Monteria, Madrid 1944). Es gibt eine allgemeine Berufung des Menschen, glücklich zu sein, urteilt Ortega. Durch sie beflügelt wählt der Mensch, sofern er hierzu frei und nicht durch Arbeitszwang aus Frembestimmung daran gehindert wird, eine Beschäftigung, um sein Leben, das ihm leer gegeben ist, sinnvoll auszufüllen. Unter der Voraussetzung freier Lebensplanung entwirft der Mensch ein Lebensbild mit Beschäftigungen, die ihm die Chance bieten, seine Zeit nach seinem Geschmack auszufüllen und so  Zeit und Tätigkeit als Gewinn wahrzunehmen. Tätigkeiten im Felde dieses Lebensbildes sind, so meint Ortega, Glück vermittelnde Aktivitäten in deren Ergebnis der Mensch Glück als Zufriedenheit mit dem Leben erlebt. Was also ist Glück?

Ortega definiert Glück demgemäß wie  Kant und lässt erkennen, daß seine Einstellungen zum Leben überhaupt irgendwie durch Kants Denken befruchtet, beeinflusst sind. Immanuel Kant definiert:  ”Das Leben ist das Vermögen eines Lebewesens, nach Gesetzen des Begehrungsvermögens zu handeln.” Und die Lust, die mit Glück immer verbunden ist (vgl. Kick im modernen Sprachgebrauch als Kumulus einer exorbitanten Glückserfahrung), sie “ist die Vorstellung der Übereinstimmung der Handlung (bzw. des Gegenstandes) mit den subjektiven Lebensbedingungen.”  Ortega hat diese Grundüberzeugungen Kants bloß anders ausgedrückt! Er stimmt mit Kant darin überein: Glück ist die Zufriedenheit mit dem Leben. An anderer Stelle drückt Immanuel Kant dieses Faktum etwas umständlich im Sinne der Interpretation Ortegas aus, die oben dargeboten ist. Kant urteilt:  ”Glück ist der Zustand eines vernünftigen Wesens (Anm. Redaktion: gemeint ist der Mensch) in der Welt, dem es im Ganzen seiner Existenz alles nach Wunsch und Willen geht: Sie beruht auf der Übereinstimmung der Natur zu seinem ganzen Zwecke, also zum wesentlichen Bestimmungsgrund des Willens.” (KpV-Akademieausgabe S. 124).

Das subjektive Glück unter dem Anspruch einer kollektiven Ressource

Über Glück zu reden hat heute Konjunktur! Leben des Menschen und Lebenssinn aus dem Aspekt von Glück angemessen miteinander zu verbinden setzt voraus, die Natur der Natur des  Menschen in einer unauflöslichen Verschränkung als Kultur- und Naturwesen zu begreifen. Wenn ich frei bin, mein Leben mit Tätigkeiten auszufüllen, zu denen ich im Sinne Ortegas Berufung verspüre, laufe ich Gefahr, das auf  gleiche Weise sich vollziehende Streben anderer Menschen zu beschädigen oder sogar zu unterdrücken, weil häufig dieselben Ressourcen Gegenstand des Glücksstrebens verschiedener Subjekte sind. Ich kann also das Glück nicht ohne die Gefahr konfligierender Interessen auf der Basis einer Lebensform erreichen, die Fremdinteressen nicht aus dem Aspekt berechtigten Glücksstrebens anderer Menschen mit bedenkt. Wer die Modi seiner Glücksstrategien absolut setzt, der ist bereit, sein Glück auf dem Buckel des Unglücks anderer Menschen zu erleben und auszuleben. Hierin liegt die Grundspannung zwischen Anspruch auf Glück und seiner intersubjektiven Ermöglichungsbedingung aus dem Aspekt von Sozialität und Moralität. Ausdrucksformen hiervon zeigen sich auf den Feldern Reichtum und Armut, Krieg und Frieden, Bildung, Wissen und Fortschritt, Aufklärung und ihrem Gegenteil. Vom Glück aus dem Aspekt der Humanität und des möglichen kulturellen Fortschritts also ist zu handeln. Dazu muß, so scheint es, individuelles und kollektives  Glück zusammen gedacht werden. Vom Glück als Sinn von Leben kann  (z.B. philosophierend) offenbar erst dann gesprochen werden, wenn wir wissen, was Glück als Entität der menschlichen Natur  überhaut bedeutet, wie es entsteht und wie funktional die Glücksbasis, das Gehirn, diese  elementare  Bezugsgröße des Lebens zwischen der Seele (Geist) und ihrer materialen Basis (Gehirn) , dem Menschen etwa über Hormonsteuerung ein Gefühl von dem vermittelt, was allgemein als Glück empfunden wird. Glück im Tierreich gibt es nicht. Also ist Glück ein Merkmal kultureller Prägung des Lebens und vielleicht die Voraussetzung dazu. Die Neurowissenschaften haben in jüngerer Zeit  spannende Interpretationskonstrukte über Entstehen und Wirkungen (aus der Sicht der Evolution) von Glücksgefühlen  bzw. von Glückszuständen erarbeitet, die geeignet erscheinen, das Glück als einen  evolutiven Mechanismus zu bedenken, näher hin , als einen  Motor der Kulturevolution. Offenbar hängen Glücksstreben und Lernen genetisch zusammen (Spitzer, Ulm).

Glück ist Maximierung von Lust

Die Neurowissenschaften, allen voran die so genannte Hirnforschung haben das Glück als Objekt der wissenschaftlichen Untersuchung ebenso entdeckt wie es die Philosophie seit der Antike schon betreibt. Man kann leichter angeben, was etwas nicht ist als man genau zu bezeichnen vermag, was die Natur,  der Charakter oder der Kern einer Sache konkret sei. Die Publikationen aktueller Provenienz zum Glück sind Legion. Eine kaum noch zu erfassende Anzahl von Glücksexperten tummelt sich in Medien, auf dem Buchchmarkt bis hin zum Gesundheitswesen, wo sich Psychoanalyse und Psychiatrie in ungewohnter Harmonie in therapeutisch-geschäftlicher Absicht hinter dem Terminus Glück verschanzen. Was überhaupt ist das: Glück? Mit den Worten eines, wie mir scheint seriösen Glücksforschers auf dem Felde der Philosophie, Wilhelm Schmid, ist “Glück die Maximierung von Lust”. Und wo finden wir diesen Zustand? Schmid meint dort, wo Menschen sinnhaftes Leben als gelingendes Leben erleben und führen: “Sinn ist dort, wo Zusammenhang besteht.”  Vorfreude sei wichtig für das Glücksgefühl. Glück ist meistens der Augenblick davor. Ortegas Bogenschützenmodell kommt uns da in den Sinn! 

Glücksstreben als evolutive Strategie

  befeuert die Lerndisposition unseres Gehirns 

Naturwissenschaftlich hat die Hirnforschung (Manfred Spitzer, Ulm) irgendwie den Dreh herausgefunden, was es mit dem Glück auf sich hat. Endorphine, Neurotransmitter sind die Vehikel, die uns dem Glücksgefühl entgegen führen. Sie schleusen unsere Emotionalität zum Glückszentrum im Gehirn, zum Nucleus accumbens. In diesem Arreal unseres Gehirns wird  das Glücksgefühl ganz unauffällig für das Glückssubjekt zur Strategie der Evolution. Sie wollte offenbar nicht ohne weiteres, daß der Mensch glücklich sei. Worauf aber zweckt die Evolution mit den Operationen im Nucleus accumbens überhaupt ab , wenn nicht auf Glück an sich? Manfred Spitzer und sein Team  haben beobachtet, daß Aktivitäten im Glückszentrum einsetzen, sobald etwas Neues, etwa Unbekanntes plötzlich eintritt. Da das Glückszentrum aber gleichzeitig jener Ort im Gehirn ist, an dem  Lernen stattfindet, folgern die Hirnforscher: Das Glücksgefühl ist für den Menschen bloß der Anreiz zum Lernen . Die Evolution spielt Jägerin und verteilt das Glück als Lockmittel, als ” Köder” zum Lernen, zum evolutiven Fortschritt. Deshalb reagiert der Nucleus accumbens auch auf positive Neuigkeiten. Da das Glück aber, wie wir wissen, ein flüchtiges Reh ist, bedarf es eines fortwährenden Glücksstrebens , um das “höchste Glück der Menschenkinder” im Sinne von Johann Wolfgang von Goethe (westöstlicher Diwan) zu erlangen. Wer wollte in Frage stellen, daß das Lernen zum Ausfüllen der Aufgabe, die dem menschlichen Leben gestellt ist, ein immerwährender notwendiger Prozeß ist mit dem Ziel einer Selbstkultivierung des Ichs. Glück ist offenbar in seiner höchsten Form auf kulturelle Profilierung angelegt, die Goethe als kollektives Ziel so beschreibt: “Volk und Knecht und Überwinder, sie gestehn zu jeder Zeit, höchstes Glück der Menschenkinder ist nur die Persönlichkeit. Jedes Leben sei zu führen, wenn man sich nicht selbst vermißt. Alles könne man verlieren, wenn man bliebe wer man ist.” 

 Mit Ortega können wir jetzt argumentieren: Jeder Mensch verspürt eine Berufung zum Glück, um das Programm seines Lebens zu entwickeln. Glück ist die Ermöglichungsbedingung zum Lernen nach den Erkenntnissen der Naturwissenschaft. Also sind die naturalen Prozesse des Glückszentrums im Gehirn  unabdingbare Voraussetzungen für den Menschen, das uns im Sinne Ortegas leer gegebene Leben in einem sinnhaften Lebensprogramm  auszufüllen, es je nach Motivlage sinnvoll  zu verlieren . Es macht also Sinn zu wissen, was dem Glück auf dem Fundament unserer vitalen Natur voraus und zugrunde liegt.

Maria Wilderich von Tahlheim