Hrsg.:Stascha Rohmer
José Ortega y Gasset:
Der Mensch ist ein Fremder. Schriften zur Metaphysik und Lebensphilosophie.
Übersetzt und herausgegeben von Stascha Rohmer. Freiburg 2008: Alber-Verlag. ISBN 978-495-48104-2
Mit diesem Beitrag von Stascha Rohmer werden die in deutscher Sprache vorliegenden Texte Ortegas durch eine längst überfällige Schriftenreihe ergänzt und erweitert, die den spanischen Philosophen aus dem Aspekt seiner akademischen Tätigkeit als Hochschullehrer im deutschsprachigen Raum näher bringen. Mit 21 Jahren bereits zum Doktor der Philosophie promoviert, studierte José Ortega y Gasset einige Jahre in Deutschland und wurde mit 27 Jahren zu einem Lehrstuhl für Metaphysik (Madrid, 1910) berufen. Für den deutschen Leser ist sein Wirken als Philosophieprofessor bisher ein weißes Blatt geblieben. Verdienstlich daher die von Stascha Rohmer jetzt (2008) vorgelegte Übersetzung, die, dreigliedrig, mit Vorlesungen zur Metaphysik, Abhandlungen zur Historischen Vernunft und eine umfangreiche Ausarbeitung zu Wilhelm Dilthey und die Idee des Lebens den Hochschullehrer Ortega jenseits der bisher bekannten essayistischen Erfolgspublikationen, aber mit gleicher sprachlicher und stilistischer Eleganz vorstellt. Rohmers Beitrag zeichnet sich über eine sprachlich an Ortegas Diktion erinnernde Übersetzung hinaus durch eine literaturwissenschaftliche Akkuratesse aus, die allerdings eher auf das akademische Leserpublikum abzweckt als den allgemeinen Leser im Blick zu haben. Stascha Rohmer übersetzt nicht bloß elegant, er korrigiert auch den “Meister” in Fußnoten, wenn er in Ortegas Texten Irrtümer oder Fehldeutungen entdeckt zu haben glaubt. Auf diese Weise ist Rohmer ein Übersetzer und Kommentator zugleich. Die Lektüre der in weite Horizonte der Philosophie und des Selbstverständnisses von José Ortega y Gasset ausfächernden Einführung ist wohl für jeden Rezipienten eine unabdingbare Pflichtübung, wenn man nicht bloß “querlesen”, sondern auch verstehen will.
Der Titel: Der Mensch ist ein Fremder wurde dem Text der Vorlesung zur Historischen Vernunft (vgl. S. 253) entnommen und kann als programmatisch verstanden werden. Ortega behandelt das ICH und seine LEBENSUMSTÄNDE. Das ICH repräsentiert vor allem ” das grundlegende Bedürfnis des Menschen” glücklich zu sein. Es ist das Lebensprogramm. Es versucht, das, was wir sind zu verwirklichen. Ihm gegenüber steht aber eine feindliche Umwelt, die Lebensumstände, die der genetischen ICH-Tendenz ihre Umsetzung in der Umwelt nicht nach Wunsch und Wille gestatten. Die reine Vernunft ist nach Ortegas Sichtweise in der vitalen Vernunft verortet, da der Mensch in seinen Lebensumständen, in Welt bzw. Natur, verloren ist. In der Metaphysik des humanen Lebens verdichtet Ortega die Selbstreferentialität des Menschen zwischen Differenz und Identität ähnlich wie später Helmuth Plessner (1928 in den Stufen) zu der bekannten Formel: “Ich bin ich und meine Lebensumstände”. Ortega perhorriziert Helmuth Plessner bzw. Ansätze der Phänomenologie von Edmund Husserl indem er feststellt: Der Mensch ist ein utopisches Wesen. Er ist es deshalb, weil er sich vornimmt, das Unmögliche zu sein. Die Lebensumstände des Menschen, Ortega nennt sie Welt bzw. Natur, machen das Intendierte des Ichs unmöglich. Hier zeigt sich bereits eine Andeutung der (anthropologisch) gewandelten Überzeugungen und Sichtweisen Ortegas über die historische Vernunft (sensu Dilthey) hinaus zu einer angemesseneren, zutreffenderen Selbstauslegung des Menschen als ein Wesen der Kultur-Natur-Verschränkung. Das sich ebenfalls andeutende Anlage-Umwelt-Schema der aktuellen Humanwissenschaften dürfte einer Nähe Ortegas zu seinem Freund Max Scheler zu verdanken sein.
Die Deduktion des Titels, der ein Urteil darstellt, wird von Ortega unter Verwenden der Mensch-Tier-Perspektive hergestellt:
“Daher die Begeisterung und der Neid, mit der wir zuweilen die Gelassenheit des Tieres betrachten, das in seinem Dschungl lebt! Wir beneiden es nicht etwa, weil es glücklich wäre- das Tier ist nicht glücklich- wir beneiden es, weil es nicht unglücklich ist. Das ist, da es sich nichts Unmögliches vorgenommen hat, weder glücklich noch unglücklich: Es stimmt mit seinem Element überein. Das Tier ist Anpassung, aber der Mensch ist die wesensmäßige Unangepasstheit. Der Mensch ist, wo er auch immer ist, ein Fremder.”
Anders als Immanuel Kant betreibt Ortega seine Philosophie (Metaphysik )nicht als Transzendentalphilosophie, sondern im Sinne einer ontologischen Methode. Diltheys Sichtweise einer Selbstauslegung des Menschen, das ditheysche anthropologische Interpretationskonstrukt , hat Ortega nach Kenntnis von “Die Stufen des Organischen und der Mensch” (Plessner 1928) wenn nicht aufgegeben, so doch auf das Fundamentale im Ansatz von Plessner ausgerichtet. Über Diltheys Ansatz hinaus hatte Ortega offenbar erkannt, daß wir vorher schon wissen müssen, was der Mensch überhaupt ist, wenn wir die Geschichte des Menschen erzählen wollen. Evident nachvollziehbar erweist sich diese Entwicklung wohl spätestens in Ortegas Jagdessay von 1942: Prólogo a un Tratado de Monteria, deutscher Titel (DVA 1954): Meditationen über die Jagd. Danach gefragt, wie denn die dort enthaltenen, oft kryptisch anmutenden Axiome und Urteilssätze zu verstehen seien, hat José Ortega y Gasset mir 1954 in München einen Hinweis zur Interpretation erteilt. Er verwies auf Plessners Anthropologie und meinte, der Leser sollte durch diese Brille seinen Text wahrnehmen und begreifen. Etwa 40 Jahre danach habe ich auf Anregung von José Louis Molinuevo im Gespräch mit Ortegas Tochter Soledad bei der Ortegastiftung in Madrid genau diesen Aspekt erneut problematisiert. Soledad Ortega affirmierte die Überzeugung, ihr Vater habe den Plessnerschen Ansatz vollends nachvollzogen und seine neueren philosophisch-anthropologischen Sichtweisen an diesem Model der Selbstauslegung des Menschen orientiert. Er sei überzeugt gewesen, daß das historische Konzept Diltheys erst im Anschluß daran seinen Ort haben könne.
Die mit einer nach meiner Meinung außerordentlich verdienstvollen tiefschürfenden geistes- und philosophigeschichtlichen Einführung vorgelegte Übersetzung von Stascha Rohmer gestattet heute dem Leser deutschsprachiger Ortegatexte eine gelingende Zusammenschau der philosophischen, geschichtlichen und anthropologischen Ansätze von José Ortega y Gasset aus der Befruchtung durch die großen, Denkhorizonte und Überzeugungen bildenden Zusammenhänge seiner Erfahrung mit die Originalität europäischen Geistes vor allem in Deutschland. Daß diese spanische Seele einen solch eminent ideenschöpfrischen Beitrag zur Europaidee zu vermitteln vermochte, verdankt sich nach meiner Meinung der vorstehend näher erwähnten Weltoffenheit und Weltberührung von Ortega in den frühen Jahren seiner geistigen Ausrichtung. Idealtypisch für den Spanier scheint die grundsätzliche Unabgeschlossenheit seines Denkens, die oft absichtsvolle Beliebigkeit und Unentschiedenheit von Urteilssätzen zu sein. Das ist wohl auch der Grund dafür, daß José Ortega y Gasset zwar moralphilosophisches Denken dargeboten, nie aber eine Ethik, eine Moralphilosophie sui generis entwickelt hatte. Ähnlich verhält es sich mit dem vorstehend angegebenen philosophisch-anthropologischen Ansatz, mit dem Ortega die Diltheysche Voraussetzungslosigkeit aufgeben und zur Eigentlichkeit der Selbstauslegung des Menschen gelangen konnte. Mancher mag diese Eigenwilligkeit beklagen. Sie gestattet uns aber heute, Ortega y Gasset nicht nur als einen Denker von damals zu begreifen und zu behandeln, sondern als einen Anreger philosophischen Denkens in fernen Zeithorizonten. Nicht allein Ortegas Europaidee steht hierfür beispielhaft, sondern auch seine Ausführungen in biotisch-evolutiver (Darwin) wie auch kulturevolutiver Absicht. Auf dieser Grundlage kann nach meiner Überzeugung sensu Ortega moderne Humanwissenschaft mit philosophisch-anthropologischer Synthese vorteilhaft und selbstwiderspruchsfrei “amalgamiert” werden. Ohne dieses Instrument wäre die Gründung der Deutschen Gesellschaft José Ortega y Gasset nicht bloß sinnlos geblieben, sondern auch ex tunc zum Scheitern verurteilt. Eine vorrangige Aufgabe wird es also sein, die aktuellen Fragen unserer Zeit aus Natur-Human- und Geiseswissenschaften, die voneinander zu trennen bekanntlich kaum mehr möglich ist, wenn eine unsinnige Diversifizierung von Wissen vermieden werden soll, aus den Ansätzen von Ortega anzuleuchten, um dort, wo es die Voraussetzungen gestatten, moderne Philosophie zu betreiben. Kaum der Erwähnung bedürftig ist der Hinweis, dass mit dem Strukturalismus (etwa in der Ausrichtung nach ) die Lebensphilosophie historisch geworden ist. Wenn wir sie als Episode in Ortegas Geistesleben begreifen, eröffent sich uns mit Ortega der Blick über sie hinaus auf heute. Ein dialektischer Ansatz könnte den Beweis erbringen.
Günter R. Kühnle,Web-Redaktion