Aristotelische Tradition

Die Vorstellung von dem natürlich Vorgegebenen und einer Zielgestalt, die dem Menschen aufgegeben ist, das Aufgegebene, mit dem Prozesscharakter des zwischen diesen „Polen“ liegenden Weges (Der Weg ist das Ziel) geht auf einen alten Topos der Philosophiegeschichte, näher hin: auf Aristoteles zurück. José Ortega y Gasset nimmt in seinen insoweit relevanten Abhandlungen darauf ausdrücklich Bezug.

LEBEN HEISST, AUF EIN ZIEL ABGESCHNELLT SEIN, AUF ETWAS ZUZUWANDERN. DAS ZIEL IST NICHT MEIN WANDERN, NICHT MEIN LEBEN: ES IST ETWAS, WORAN ICH MEIN LEBEN SETZE, UND IST DESHALB AUSSERHALB, JENSEITS DES LEBENS.   (GW III, S. 115)

Wie der Pfeil des Bogenschützen, eine Symbolgestalt der Philosophie Ortegas, auf ein Ziel hin „abschnellt“, so soll der Mensch, dessen Leben Ortega als TÄTIGKEITSPOTENTIAL begreift, „diesem Potential zur Verwirklichung verhelfen“. Auf diese Art gestalten wir im unentwegten Streben nach Glück unser „inneres Schicksal“, das dann Glück bedeutet, wenn das gelungene Leben mit dem „entworfenen Leben“ übereinstimmt (GW III, S. 282).

Das Aufgegebene als Zielgestalt ist in Ortegas Sinne das, wozu der Mensch eine Berufung verspürt. Denn „in den glückhaften Beschäftigungen verrät sich die Berufung des Menschen“.
Johann Wolfgang von Goethe  bezeichnet  (im westöstlichen Diwan) die Persönlichkeit als „ das höchste Glück der Menschenkinder“. Ortega hat mit dem AUFGEGEBENEN offenbar ebenfalls die sittliche Persönlichkeit im Blick, wenn er das Lebensprogramm des Menschen in der Wechselwirkung mit der Berufung zum Glück auf ein Ziel hinordnet, das er als die „Aufgabe des Menschen“ bezeichnet: „Berufung (…), das heißt das, was wir wirklich zu tun haben, ist nicht in unser Belieben gestellt. Sie wird uns unweigerlich aufgegeben. Daher hat alles menschliche Leben seine Aufgabe.“ (GW III, S. 572).

„Werde, der du bist!“

Dieser Leitsatz Ortegas in Anlehnung an Pindars heroische Ethik wird mit zahlreichen Zitaten aus Aristoteles (Nikomachische Ethik-V-17) verbunden: „Der Bogenschütze sucht mit seinen Augen ein Ziel für seinen Pfeil, und wir suchen keines für unser Leben.“ Gerade aber diese mit dem Pfeil auf das Ziel abschnellende Dynamik, ausgerichtet auf eine vitale und geistige Vollendungsgestalt, ist im Sinne von Ortega Ausdrucksgestalt für die Vitalgesetze, für das Leben überhaupt. Erneut zitiert er Aristoteles und begreift mit ihm den Menschen vor diesem Hintergrund: „ Wie einer ist, so erscheint ihm sein Ziel“ (a.a.O.). Der Mensch muss sich erst zu dem machen, was er eigentlich schon seiner Anlage gemäß ist (vgl. Plessner).

Bei Tieren erfolgt diese Art der Verwirklichung durch instinktgeleitete Ausdrucksformen der Natur. Der Mensch aber muss sich zu diesem Ziel selbst bestimmen.

Die insoweit für Ortegas Denkhorizonte maßgebliche Ausrichtung orientiert sich, wie wir sehen, an den entsprechenden Denkoperationen des Aristoteles. Hierauf ist deshalb näher einzugehen.

Aristoteles definiert den Menschen als zoon politikón. In einem Sozialverband, in einer Gemeinschaft (Polis) zu leben ist die für menschliches Leben typische Lebensform. Die hier erfolgte Einordnung des Menschen ist Ausdruck einer naturphilosophischen Sichtweise:

Die Natur der Lebewesen ist eine Natur, die sich im Modus des Könnens darstellt. Sie ist ausgezeichnet durch Strebungen (Ortega: Tätigkeitspotential). Das Ziel dieser Strebungen ist ausgerichtet auf die Natur als ihre Erfüllungsgestalt. Die Könnens-Natur verwirklicht sich in Ihrer Vollendungsgestalt durch eine angemessene Weise der Lebensführung (Praxis). Anders als das Tier muss sich der Mensch zu diesem Ziel selbst bestimmen. Er gewinnt seine Vollendungsgestalt aber nicht in der Einsiedelei, sondern im Sozialverband, der für den Menschen nicht naturwüchsig ist. Wir finden dieses Ziel nur dadurch, dass wir in einen sozio-kulturellen Kontext (Milieu) hineingeboren werden. Deshalb ist die Frage nach dem Glück für den Menschen eng mit Sozialität verbunden.

Das Problem der Transzendenz bzw. der Leib-Seele-Einheit sei hier nur angedeutet. Bei Aristoteles bleibt das Problem, wie eine Leib-Seele-Einheit und die spezifische Transzendenz bzw. Offenheit des menschlichen Geistes zusammengedacht werden können, bestehen. (vgl. Aristoteles: De Anima)

     Terrorismus als sinnvolle Lebensgefahr?

Eine Lebensphilosophie auf der Grundlage der Thesen und Werthorizonte von Ortega könnte aus der Sicht der sozio-politischen Fakten des 21. Jahrhunderts vielleicht einer hermeneutischen Fehlinterpretation erliegen, wenn zugleich eine Überzeugung fundamental sein kann: „Das Leben ist der Werte höchster nicht“.
Ortega begreift die Grundstruktur aller natürlich-vitalen Prozesse, das menschliche wie tierische Leben mitsamt ihren Wechselwirkungen zwischen Leben und Tod (zum Beispiel die Jagd) als Drama. Für höhere Formen der Moral fordert er ein menschenwürdiges Management des Todes:

„Es ist unverständlich, warum der Imperativ, der uns gebietet, das Leben willentlich zu formen und zur Erfüllung hoher Schicksale zu benutzen, sich nicht auch auf die Gestaltung des Todes erstreckt. Wenn der Tod auf so wesentliche Weise Teil des Lebens ist, sollten wir ihn als unseres Heils Werkzeug gebrauchen.(…)Der natürliche Tod ist der chemische, zwangsläufige, unfreiwillige Tod, der Tod des Tieres und der Pflanze, vielleicht des Universums. (…)Eine solche höhere Moral müsste dem Menschen zeigen, dass er sein Leben besitzt, um es sinnvoll in Gefahr zu bringen.“ (GW I, S. 296)

Könnte eine Philosophie des Todes dieser Art heute aus dem Aspekt fundamentalistischer Weltbilder (die Ortega freilich nicht perhorrizieren konnte) wenn nicht Rechtfertigung, so aber doch Verständnis für fundamentalistisch begründeten Terrorismus hergeben? Sind nicht etwa die meisten Selbstmordattentäter vor dem Hintergrund des islamischen Fundamentalismus überzeugt, ihr Leben zu besitzen, „um es sinnvoll in Gefahr zu bringen“? Böte da nicht Ortegas Sichtweise der Transzendenz, so wäre zu fragen, eine Argumentationsstütze mit dem Satz
“Leben heißt, auf ein Ziel abgeschnellt sein; es ist etwas, woran ich mein Leben setze, und ist deshalb außerhalb, jenseits des Lebens.“( GW III, S. 115)

 „Die Sorge um das, was sein soll …“

Selbstmordattentäter mit islamistisch-fundamentalistischer Grundeinstellung sind häufig überzeugt, durch Vernichten von „Ungläubigen“ im Jenseits eine bevorzugte Position erlangen zu können. Eine subjektiv legitimierte Form von Attentaten, die nach Täterüberzeugung das Leben damit sinnvoll in Gefahr bringen ist weit entfernt, so scheint es, von der Vollendungsgestalt, die Ortega mit seiner Philosophie intendiert. Die Gründe hierfür zur Vermeidung von Spekulation und Überinterpretierung am vorstehenden Beispiel aufgezeigter Gefahr nachvollziehbar aus Ortegas Philosophie zu deduzieren und logisch abzuleiten wäre eine wichtige und außerdem vornehme Aufgabe für die Ortegagesellschaft, damit der Bogenschütze seine Pfeile nicht unversehens in die falsche Richtung abschnellen lässt.
Ortegas Wertepräferenz liegt unbezweifelbar auf der Ebene der Achtung vor dem Leben und vor der Würde des Menschen. Insoweit rangiert sie vor aller deontologischen Form einer Ethik. Denn: „Die Sorge um das, was sein soll, ist nur dann anerkennenswert, wenn sie die Achtung vor dem, was ist, ausgeschöpft hat.“
Die Sorge ist offenbar berechtigt. Denn immer dann, wenn sich das Motiv zu einem Verbrechen auf Gesinnung, auf Überzeugungen und Werthaltungen reduzieren lässt, ist das Verständnis in der Gesellschaft wie vor Gericht häufig überraschend groß. Entstammen die Akteure doch meist privilegierten Schichten und nicht etwa, wie oft kurzsichtig und vorschnell bzw. aufgrund ungenügender Information vermutet wird, aus einer Schicht der Leute ohne Ar und Halm.

H.W.von Tahlheim, Web-Redaktion