Die Deutsche Gesellschaft José Ortega y Gasset stellt vor allem die Europaidee und die in philosophischer Anthropologie verortete Kulturphilosophie Ortegas in den Mittelpunkt einer an Verbreitung und Weiterentwicklung dieses Gedankengutes interessierten Tätigkeit. Gleichrangig in der Sicht steht die Philosophie Ortegas im Ausgang seiner akademischen Lehrtätigkeit mit dem Fach Metaphysik. Stascha Rohmer hat eine Sammlung der Metaphysikvorlesungen Ortegas bearbeitet und eine nach unserer Überzeugung längst fällige erste, in den Medien beachtete Übersetzung vorgelegt. Der hier dargebotene Beitrag ist weniger auf das Leben und Wirken von José Ortega y Gasset im allgemeinen als auf die geistigen und soziopsychologischen Einflüsse gerichtet, die auf den Spanier bei seinem Aufenthalt in Deutschland gestaltend eingewirkt haben.
Zur Person, zum Leben und zu den Werken des 1883 in Madrid geborenen spanischen Philosophen und Essayisten José Ortega y Gasset ( gestorben 1955 in Madrid) existieren mehrere Abhandlungen, die von profunder Kenntnis der Literatur Ortegas und von zulänglichen Informationen zum privaten bzw. akademischen Milieu dieser herausragenden Persönlichkeit zeugen. Wir verzichten an dieser Stelle auf eigene Rekapitulation entsprechender Daten und empfehlen zwei relevante Beiträge, die über elektronischen Weg (Internet) erreicht werden können. Im Kröner-Verlag wurde von Julian Nida-Rümelin in der Reihe Philosophie heute eine Besprechung von Leben, Werken und Bibliographie zu Ortega y Gasset und Martin Heidegger (et alii) heraus gegeben, die dem allgemeinen Interesse eine wohl am besten geeignete Übersicht mit Kurzinformationen zu ausgewählten, in deutscher Sprache vorliegenden Texten Ortegas vorlegt: www.capurro.de/kroener1.htm Beachtenswert ebenfalls die relevante Ausgabe im Verlag Traugott Bautz: Biographisch-Bibliographisches KIRCHENLEXIKON: www.kirchenlexikon.de/o/ortega_y_g.shtml
Marburger Nächte sind lang …
Wie eine lebendige Erinnerung an die Beobachtung von Madame de Stael aus ihrem 1813 veröffentlichten Buch De l´Allmagne wirkt noch heute das zwischen sein Schloß und die Lahn gedrängte MARBURG. Die Autorin registriert dort, die glänzendsten Geister Europas lebten im provienziellen Klima deutscher Kleinstädte unter einer Glocke von Pfeifenrauch. Tatsächlich war Marburg zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts wohl die extreme Konkretisierung dieses Paradoxes. Hier traf 1905 auch José Ortega y Gasset ein, um nach seiner im Jahr zuvor in Madrid erfolgten Promotion ein Studium in Deutschland zu beginnen. Er reiste aus Berlin an, wo der von ihm verehrte Friedrich Wilhelm Dilthey Philosophie lehrte. Ortega hatte sich für MARBURG entschieden, um die akademischen Veranstaltungen des weit beachteten Neukantianers Hermann Cohen unmittelbar wahrnehmen zu können. Eingeschrieben war der spanische Dr.phil Ortega ausweislich der Studienbücher bei Cohen für dessen Vorlesung “Kants System” und bei Paul Natorp für die Veranstaltung “Philosophie und Pädagogik”. In Marburg begenete Ortega seinen Kommilitonen Nicolai Hartmann, Heinz Heimsoeth (mit dem er sich zur Hausmusik traf) und Ernst Cassirer. Über seinen jahrelangen, aber von Intervallen geprägten Aufenthalt in Marburg schreibt José Ortega y Gasset:
” In dieser Stadt habe ich das Äquinoktium meiner Jugend verbracht; ich danke ihr die Hälfte meiner Hoffnungen und fast meine ganze geistige Zucht.” Die Marburger Universität verlieh ihrem inzwischen in fast ganz Europa, an vielen europäischen und vor allem südamerikanischen Universitäten exorbitant beachteten Fackelträger Deutscher Philosophie sui generis ( Ortegas Lebensphilosophie) die Ehrendoktorwürde.
Marburg hat, wie aus zahlreichen Professorenbriefen jener Zeit zu entnehmen ist, mit seinem dörflichen Ambiente in ebenso schöner wie bedrängender Enge der “Schatten” innerstädtischer Fachwerkbauten ein ganz besonderes, wenig griffig zu beschreibendes Lebensgefühl geprägt. Es mag überraschen, wenn wir ein Faktum soziopsychologischer Gestalt bedenken, das Marburg eine wohl einzigartige Wirkung attribuiert, die im allgemeinen Bewußtsein höherer Bildungsschichten fest verankert ist: Kein Ort der Welt hat in der Zeit zwischen Beginn des Ersten Weltkrieges und den frühen dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts das Selbstbild der Menschheit stärker geprägt als das provinzielle MARBURG. Genauer: Von hier wurden die Begriffe und Bilder, in denen sich Gebildete weit über westliche Kulturen hinaus verständigten in intersubjektiv hermeneutischer Absicht vorgegeben bzw. internalisiert. Es war ein wohl nicht mehr wieder zu erlangendes akademisches und gesellschaftliches Klima, unter dessen Haube bei dem frühen José Ortega y Gasset Werthaltungen, politische und gesellschaftliche Normen, philosophische Überzeugungen, Menschen und Weltbild heranreiften, die ihn mit der fast idealtypischen Denkergemeinschaft weit über Marburg hinwaus verbanden. Hans Georg Gadamer, Ortegas Freund ebenso wie Max Scheler erinnert später “Don José” mit den Worten: ” Er war wiklich ein Toro!”. Ortega übernahme 1910 eine Professur für Metaphysik an der Madrider Universität.
Der Geist der Vermassung im Ausdruck seelischer Säkularisation
Der 1923 nach Marburg berufene Martin Heidegger publizierte 1927 eine EXISTENTIALONTOLOGIE mit dem Titel SEIN und ZEIT. Wenig später, 1930, erschien Ortegas bedeutender Essay Der AUFSTAND der MASSEN und wurde neben Oswald Spenglers: Der UNTERGANG des ABENDLANDES zu dem über viele Jahre hinweg meist gelesenen Buch in Deutschland. Ortega stellt sich hier die Frage:
“Verhandlungen, Normen, Höflichkeit, Rücksichten, Gerechtigkeit, Vernunft! Warum erfand man das alles? Wozu der ganze Umstand? All das lässt sich in dem Wort ZIVILISATION zusammen fassen, das durch den Begriff des civis, des Bürgers, hindurch seinen Ursprung enthüllt. Der Liberalismus ist das politische Rechtsprinzip, nach welchem die öffentliche Gewalt (…) eine Stelle für jene frei lässt, die anders denken und fühlen als sie, das heißt als die Starken, als die Majorität.” (Stuttgart 1965, S. 136f.)
Der von Ortega verwendete Schlüsselbegriff Massenaufstand meint den nivellierenden Angriff auf das Selbstsein und die seelische Verarmung der menschlichen Person als ein sozialpsychologisches Faktum moderner Gesellschaften (Pieper bezeichnet denselben Zustand mit Proletarität). Das Phänomen der Vermassung in der Kulturkritik bei José Ortega und Karl Jaspers entspricht der Vorstellung Martin Heideggers im Ausdruck der “Uneigentlichkeit der Existenz”.
Karl Jaspers urteilt in dem berühmten Essay von 1931: Die geistige Situation der Gegenwart:
“Es beginnt heute der letzte Feldzug gegen den Adel. Statt auf politischem und soziologischem Felde wird er in den Seelen selbst geführt (…). Der Ernst des Problems, wie für den Massenmenschen zu sorgen sei, der nicht willens ist, innerlich auf sich zu stehen, führt zum Aufstand des existentiellen Plebejertums in jedem von uns gegen das Selbstsein, das die Gottheit in ihrer Verborgenheit von uns fordert.” (Berlin 1971, S. 177)
In den Frankfurter Heften 3 (1948, S. 1013-1022) wird diese These dahingehend interpretiert, daß die von Jaspers und Ortega beschriebene Vermassung bzw. Proletarisierung das Korrelat der seelischen Säkularisation, nicht aber der Technisuierung ist.
Weshalb interessiert uns heute aus dem Aspekt einer modernen europäischen Staatengemeinschaft noch die geistig-psychologische Zusammenschau einer voreuropäischen Gesellschaft als Typus eines kulturell-nationalen “Einzelgängers” in Europa, wie er durch Jaspers,Ortega und Heidegger in den Blick genommen wurde? Vielleicht aus demselben Grunde, der bei angemessener Tiefenschärfe Spenglers Untergang des Abendlandes als in sich homologe, geschlossene Kultur mit den Säulen Antike, Christen- und Germanentum begreift und den Spenglerschen Kulturpessimismus erst begriffen hatte, als die aktuelle Integrationsdebatte längst andersartige (multikulturelle, Abendland vielleicht paralysierende) Fakten wahrnehmen und anerkennen mußte? Den Geist von Marburg im oben dargebotenen Sinne heute für das häufig kulturell wie politisch heterogen anmutenden Europa virulent bleiben zu lassen, diese Wachhsamkeit zu pflegen scheint mir sinnvoll zu sein.
Alexander Schmidt-Gießen