Jede Seele hat Religion

Mehrere aktuelle übernationale Untersuchungen bzw. Umfragen zeigen: Auf hohem Niveau und in zunehmendem Umfange bezeichnen sich die Menschen als spirituell. Gleichzeitig verlieren die traditionellen Kirchen in Europa an Zuspruch. Wie lässt sich diese gegenläufige Entwicklung einer, wie es scheint,  gleichartigen Sache erklären? Die europäisch-abendländische Gesellschaft, der Westen also, befindet sich auf dem Weg zu einer zunehmenden Säkularisierung als Folge falsch interpretierter Aufklärung.  Sich seines Verstandes im Sinne von Immanuel Kant zu bedienen setzt voraus, daß man genügend davon besitzt. Trotzdem sind spirituelle Erfahrungen keineswegs unzeitgemäß. Sinnfragen des Lebens wie zum Beispiel: Was verleiht dem Leben Bedeutung? Gibt es jenseits des naturwissenschaftlich Erklärbaren Phänomene, die, wenngleich transzendent, so aber doch existent sind? Folgt die Welt einer höheren Bestimmung? Antworten darauf kann Spiritualität leisten. Sie ist nicht nur populär, sondern- und das macht sie verdächtig- sie ist oft Ausdruck schillernder Farbenpracht phantasievoller Strömungen menschlichen Geistes (Spiritus= der Geist, vgl. Heiliger Geist im Sinne von Sanctus Spiritus als dritte Person der Gottheit im christlichen Sinne): Ein mixtum compositum übernatürlicher Phänomene, Esoterik und Meditation, philosophische Formen der Sinnstiftung halten hiervon affizierbare Gemüter in Wallung.

 

Im Focus der empirischen Wissenschaften:

Spiritualität und Religion

Religion und Spiritualität lassen sich nicht klar und ohne weiteres gegeneinander abgrenzen. Beiden ist ein zentraler Aspekt gemeinsam: das Gefühl der Verbundenheit mit einer höheren Macht, mit dem Kosmos und den Mitmenschen. Einerseits neigen viele Menschen dazu, sich von den traditionelen Glaubenslehren abzukehren und sich den jeweiligen Kirchen oder Glaubensbekenntnissen quer über den ganzen Erdball zu entfremden. Das macht  andererseits diese Apostaten nicht zu Menschen ohne sprituelles Empfinden.  Die Spiritualität hat aktuell Konjunktur. Das liegt nicht zuletzt an dem Dank moderner Neurowissenschaft und Neurobiologie gewonnenem Wissen über die Interaktion von Gehirn und Geist. Religion und Spriritualität sind die Verfassung, die Grundstrucktur jeder menschlichen Seele: Jede Seele hat Religion. Siegmund Freud vertrat eine pathologische Sichtweise. Er hielt Spiritualität und Religion für zwangsneurotisch und infantil. Charles Darwins Überzeugung hat bis heute ernst zu nehmende Anhänger: Er fasste Religion/Spiritualität ganz allgemein als eine unabhängig von jeweiligen Glaubensrichtungen gegebene  Beziehung des Menschen zu übernatürlichen Wesen auf.

Wissenschaftler unterscheiden  zwischen extrinsischer und intrinsischer Religiosität.Extrinsisch:  Zweckbestimmt! Subjekt sucht  sozialen Anschluß und wendet sich einer  Glaubensgemeinschaft zu. Der Mensch sucht Beistand bei höheren Mächten. Intrinsisch: Das religiöse Gefühl wird um seiner selbst willen kultiviert ( Meditieren um zu meditieren und nicht etwa, um den Blutdruck zu senken). Wissenschaftliche Beachtung findet aktuell nur die intrinsische  Religiosität/Spiritualität. Umfangreiche, multifaktorielle und übernationale Untersuchungen haben jüngst gezeigt:  Zahlreiche psychologische Variablen sind mit intrinsischer Religiosität korreliert. Glückserleben und Zufriedenheit gehen in exorbitant hohem Maße mit religiösen und spirituellen Überzeugungen einher. Menschen, die  im religiösen Glauben oder/und in spiritueller Hinwendung zur Bezugsspäre leben haben  weniger Furcht vor dem Tod, sind stärker sozial motiviert, neigen zur Empathie und zum altruistischen Handeln, sind stärker gegen Klischees, gegen Vorurteile gefeit und sind in kritischen Lebenssituationen die besseren Problemlöser.

 

Kulturprodukt Spiritual Brain?

Ein namhafter kanadischer Neurowissenschaftler hat entdeckt, daß wir von einem ” Spritual Brain”  wohl deshalb sprechenuns berechtigt betrachten können, weil Geist mehr ist als das Produkt neurochemischer Prozesse. Nahtoderfahrungen dienten bei der Untersuchung  als Antezedenzen der wissenschaftlichen Conclusio. Ganz allgemein sprechen in Summa die heutigen neuropsychologischen Erkenntnisse dafür, daß Spiritualität und Religiosität dem Kulturmenschen  angeboren sind. Dabei fiel auf, daß  individuelle Spiritualität, die dem Menschen einen sinnhaften Ort im Kosmos zuweist, stärker vor Depressionen schützt als beispielsweise der regelmäßige Kirchgang. Inzwischen wissen wir, daß Spiritualität der Gesundheit von Seele und Körper, dem Wohlbefinden im Allgemeinen dienen kann und Vitalzustände fördert. Spiritualität ist deshalb  schon in den USA integraler Bestandteil der medizinischen und psychotherapeutischen Ausbildung. In der oben erwähnten wissenschaftlichen Untersuchung wurde auch geprüft, welches  inhaltliche Verständnis die Probanden von Spiritualität besitzen. Etwa 50 % geben Trenszendenz, Erfahrung und Erleben von, eine Beziehung zu Übernatürlichem an.Ein Fünftel nimmt Gefühle und Harmonie unter diesem Titel an. Ebenso viele Probanden nennen Glauben unabhängig von Religionsbekenntnissen. Lebensphilosopie (17 %) , Selbstfindung (14 %)  sind repräsentativ, Esoterik und Okkultismus signifikant überrepräsentativ vertreten. Gott fühlen sich mehr religiöse Menschen ( 67 %) nah als sprituell Aktive ( 47 %). Eine durch die Bertelsmann-Stiftung durchgeführte Forschung, die Probanden relational zur Einwohnerzahl in ganz Europa einschloß, hat jüngst gezeigt: Zweidrittel aller Europäer (69 %) glauben an Gott oder an ein göttliches Wesen. Außerdem sind sie vom Weiterleben nach dem Tode überzeugt. Knapp ein Viertel (23 %) der Menschen in Europa ist nicht religiös.

 

Ortega y Gasset:

Religion ist das Wachsein eines Lebewesens 

Gehen wir mit Kulturanthropologie zurück auf die Urform Mensch zu sein, dann überrascht uns oft eine ausgeprägte Neigung des Menschen der Morgenröte, nach Sinn von Sein und Tod zu fragen. Hierin erblicken wir die Urform der Spiritualität, der Wurzel von Religion. Sie ist das Leben in und mit dem Übersinnlichen. Im Jagdessay von 1942 (Prologo) vergleicht José Ortega y Gasset  den Jäger und den Philosophen   nach Kants Modell: In mundo sensibilis atque intelligibilis.  Der Jäger ist der wache Mensch draussen im Felde. Der Philosoph der wache Mensch drinnen auf dem Feld des Geistes. Was alo bedeutet Wachheit, Wachsein im tieferen Sinne über Aufmerksamkeit hinaus? Wachheit des Menschen in diesem Sinne ist  das  tierhafte Urgefühl der  Angst vor dem Vollendetsein, vor dem Tod. Mit Religion bezeichnen wir auch das Wachsein im Augenblick der Beherrschung des Daseins, wenn dieses überwältigt, verneint, ja, vernichtet wird (Matyrer). Fürchten und Lieben, nicht Hassen und Lieben sind Grundgefühle der Religion. Geburt und Tod sind für den Menschen Geheimnisse gleicher Art. Der Glaube ist die unabdingbare Kopula zwischen Religion und Wirklichkeit. Erst mit ihm beginnt das menschliche Geistesleben überhaupt. Schicksal ist für das religiöse Denken stets eine kausale Größe.

Mit dem Bewußtsein der eigenen Sterblichkeit erreicht jene Zeitlichkeit, deren Entfaltung die Entwicklung des Seins mitbestimmt ihren Höhepunkt. Die Entstehung des Selbstbewußtseins ist an das Todesbewußtsein gekoppelt. Das jedoch in eigentümlich zirkulärer Weise, weil ein elementares Selbstbewußtsein schon existieren muß, um den Tod als eigenen Tod zu denken. Der Zusammenhang zwischen Todesbewußtsein und Selbstbewußtsein ist deshalb so faszinierend, weil paradoxerweise alleine das Todesbewußtsein den Tod zu einem metaphysischen Affront macht. Ein Wesen mit Selbstbewußtsein kann insofern als Abbild des Absoluten angesehen werden. Die unbedingte Würde des Menschen resultiert daraus, daß er Träger von etwas ist, das das Absolute widerspiegelt. Das ist zugleich der Grund dafür, daß  der Tod eines selbstbewußten Wesens etwas unvergleichlich Schrecklicheres ist als das Verenden eines Tieres mit Bewußtsein. Mit der Einsicht in den Tod erscheint auch eine allgemein tierische Fähigkeit in besonderem Lichte: Die Fähigkeit zu töten. Im Falle des Selbstbewußtseins nimmt sich der Tod nur das, was ihm sowieso gehört, weil es sich ihm verdankt! Hierin liegt wohl der Grund für  Furcht und zugleich Faszination des Selbstbewußtseis angesichts des Todes. Deshalb, so scheint es, verspüren viele Menschen das Bedürfnis, den Tod herauszufordern. Das Ich als Instanz des Selbstbewußtseins vermag den Tod nicht zu überwinden, es kann aber mit ihm kokettieren und für viele Menschen bringt dieses Spiel ein extremales Kickerleben. Bei riskanten Sportarten ebenso wie im Vollzuge der Jagd, wenn der Jäger beim Töten des Tieres neben vielem sonst einen kathartischen Effekt wie bei der Sexualität erlebt. Allerdings ist dieser spirituell-biotisch verschränkte Wesenszug der Jagd noch nicht richtig begriffen worden. José Ortega y Gasset verdanken wir die Bedingung der Möglichkeit von Verstehen dieser Sphäre einer faszinierenden Interaktion von Geist und Gehirn.

  Die Spannung zwischen Mikrokosmos und Makrokosmos  wird als ein Milieu erfahren, das man liebt, in das man sich versenken kann. So die gläubige Seele, die sich in großer Demut  am Altar des Domes ehrfürchtig im Glauben vor ihren Gott niederwirft, um sich mit Ihm zu vereinen, sich in ihn zu vertiefen, ihre Tiernatur zu höheren Sphären aufsteigen zu lassen. Die religiöse Überwindung der Angst ist wohl die höchste und  zugleich erste Kulturleistung des Menschen. Sie findet sich heute unbemerkt zum Beispiel im Vollzuge der Wildtierjagd, wenn im Jäger  beim Töten des Wildes ein extremales Erleben, eine Kickerfahrung  die Seele in reaktivem Glückserleben durchfurcht. Das jagende Subjekt  erfährt dabei  im unbewußten Erleben der Naturbeherrschung für den Wimpernschalg der Evolution  in gleicher Weise unbewußt  die Macht über den eigenen Tod.   Deshalb handelt es sich bei der auf Erleben gerichteten Wildjagd um einen kulturellen Elementartrieb und nicht etwa, wie viele Jäger vermuten, um einen archaischen Trieb oder gar um einen Atavismus. Diese Erkenntnis verdankt der moderne Jäger allein den tiefsinnigen Ausführungen, Axiomen und festgestellten Grundtatsachen des Lebens durch den spanischen  Kulturphilosophen José Ortgega y Gasset.

 

Religion ist Wurzel und Wesen jeder Kultur

Religion ist aber auch die Wurzel, der Ursprung  und das Wesen jeder  Kultur. Religion ist Metaphysik,nichts anderes. Mit Immanuel Kant ist erkannte, bewiesene (nicht dogmatische), für bewiesen gehaltene Metaphysik reine Philosophie oder Gelehrsamkeit. Es gibt keine Naturwissenschaft ohne eine ihr vorauslaufende Religion.  Erlebte Metaphysik dagegen, das Undenkbare als Gewißheit (psychologische statt logische Evidenz!), das Übernatürliche als Ereignis, das Leben in einer nicht wirklichen, aber wahren Welt sind Bezugsgrößen zwischen Leben und Tod der Kulturmenschheit, die in einer Macht zusammenfließen, welche wir Schicksal zu nennen pflegen.

“Mein Reich ist nicht von dieser Welt” , das ist das letzte Wort und der letzte Sinn jenes historischen Augenblicks in dem Pilatus und Jesus sich gegenüber standen. “Was ist Wahrheit?”, so lautet die berühmte Frage des römischen Prokurators, und in ihr liegt der ganze Sinn der Geschichte: Der Rang der Staatsmacht, des Krieges, des Blutes und die mit Stolz erfüllende universelle Kraft des Erfolges. Nicht der Mund des Christus, das schweigende Gefühl einer über alles Religiöse entzscheidenden Gegenfrage hat darauf geantwotet:” Was ist Wirklichkeit?”. Für Pilatus war sie alles, für Jesus nichts. In der historischen Welt wurde der Galiläer  ans Kreuz geschlagen, das war sein Schicksal. In der anderen verfiel Rom der Verdammnis, und das Kreuz  wurde zur Bürgeschaft der Erlösung.

 

Problem Glaube 

Das ursprünglich erste und einzige Verstehen des Menschen ist der Glaube. Geglaubt werden Wahrheiten. Wahrheiten sind unverrückbare Größen, sie stehen fest, sie sind absolut. Absolut( lat. absolvere= loslösen)  bedeutet losgelöst. Der Glaube basiert auf absolutem Wissen: Das ist sein Schicksal und  eine der besonderen Gefahren für die Kulturmenschheit. Deshalb fällt es auch so schwer, dem fundamentalen, notwendig zur Absolutsetzung verdammten Glauben Toleranz zu verordnen. Religion ist deshalb immer Ideologie verdächtig! Wer der Andere gegenüber meinem Glauben ist, der ist nicht irgendeiner, den ich respektiere, sondern der ist mein Feind. Hier liegt des Wurzel des sowohl christlichen wie islamischen Fundamentalismus. Wir verdrängen es gern, daß auf solche Weise auch besonders fest im Glauben verankerte Christen  ebenso wie die Islamsiten die  wahren Feinde einer offenen Gesellschaft sind.

Oslo, Norwegen: Das Tremendum in diesen Tagen sollte uns gemahnen, über Zusammenhänge dieser immanenten Kräfte der Sozialität in  einer Demokratien nachzudenken. Mit dem Merkmal Massenmörder einfach abzutun und damit Firnis über das zu legen, was in der Tiefe weiter gährt, ist selbstmörderisch und zeigt, daß nichts verstanden wurde. Außerdem ist das, was in Norwegen individuelle Machtanmassung zur Katastrophe für zahlreiche Menschen werden ließ nicht Mord, weil sich das Handlungsmotiv des Akteurs nicht gegen die Person, sondern gegen ein gesellschaftliches Phänomen gerichtet hat (vgl. dazu Max Scheler: Das Töten im Krieg)  Hier geschieht eher das, was Thomas Hobbes mit bellum omnium contra omnes im Blick hatte. Seine Lösung des Problems ( im Leviathan) ist bekannt. Demokratien müssen sie nur stärker nutzen. Würde Machiavelli  in höchsten  Spitzen von Politik und Kultur  nicht so grundlegend falsch verstanden, dann könnte sein Konzept freiheitliche Demokratien und offene Gesellschaften vor Horrorszenarien und Untergangsängsten besser schützen.

Die Geschichte zeigt uns, daß der Zweifel am Glauben (Rationalismus, Kants Vernunftkritik u.a.m.) zum Wissen führt und der Zweifel am Wissen zurück zun Glauben. Das kritische Wissen setzt den Glauben voraus, daß seine Theorien  genau zu dem führen, was man sucht. Inzwischen haben wir erfahren, daß der Glaube an ein voraussetzungsloses Wissen nur die ungeheuere Naivität eines rationalistischen Zeitalters zum Vorschein bringt.